Gedenktag für die Opfer des Nationalsozialismus: „Wir müssen ganz allgemein aufpassen, wie wir miteinander umgehen“

Zur Erinnerung an die 379 Menschen aus dem Dominikus-Ringeisen-Werk, die während der Herrschaft der Nationalsozialisten ermordet wurden, lasen die Schülerinnen und Schüler deren Namen vor und legten Rosen am Mahnmal im Ursberger Klosterhof ab. Bild: Bayram Er/DRW

Es ist eine lange Liste, die die Schülerinnen und Schüler am Euthanasiemahnmal im Ursberger Klosterhof vorlesen. Namen für Namen gehen sie durch, immer wieder machen sie eine kurze Pause. Um innezuhalten und der Ermordeten zu gedenken. 379 Menschen wurden zwischen 1933 und 1945 aus dem Dominikus-Ringeisen-Werk in Ursberg und weiteren Einrichtungen abgeholt und in verschiedene Tötungsanstalten verlegt, wo sie entweder sofort vergast oder über einen längeren Zeitraum durch Medikamente langsam vergiftet und systematisch zu Tode gehungert wurden.

Die Schülerinnen und Schüler der Ursberger Dominikus- und Katharinen-Schule erinnerten zusammen mit den neunten Klassen des Ringeisen-Gymnasiums sowie den Schwestern der St. Josefskongregation am vergangenen Freitag mit einer Gedenkveranstaltung an die sogenannten Krankenmorde im Rahmen des Euthanasieprogramms des Dritten Reichs. Menschen mit körperlichen oder geistigen Einschränkungen galten in der Ideologie der Nationalsozialisten als unwert, als Belastung für den von den Nazis so genannten „Volkskörper“, der sich der als Parasiten abgestempelten Menschen entledigen müsse, um zu gesunden.

Mehr als 650 000 Menschen fielen diesem Rassenwahn zum Opfer. Sie wurden gegen ihren Willen und oft auch ohne ihr Wissen unfruchtbar gemacht oder in speziellen Einrichtungen ermordet. Ein unfassbares Verbrechen, das besonders in Ursberg, wo heute eine der größten Einrichtungen für Menschen mit Behinderung ihren Stammsitz hat, nachhallt. Und umso nachdenklicher stimmen die persönlichen Äußerungen der Schülerinnen und Schüler. Von vielen war zu hören, dass sie aufgrund der gegenwärtigen politischen Diskussionen nicht mehr sicher seien, wie lange das oft wiederholte Versprechen „Nie wieder“ wirklich noch zu halten sei. Sie registrieren und spüren, dass sich die Menschenverachtung, die sich in dem Mord an Menschen mit Behinderungen spiegelt, wieder in viele Debatten unserer Gesellschaft geschlichen hat.  

Mit der Gedenkveranstaltung wollen die Jugendlichen und ihre Lehrerinnen und Lehrer aufklären. Über die Hintergründe, aber auch über die vielen Einzelschicksale. Gemeinsam begingen sie eine Andacht zu Beginn des Vormittags, in der betont wurde, dass alle Menschen vor Gott gleich sind. Jeder Mensch ist so, wie er ist, wertvoll.

Um dies zu unterstreichen, lasen Schülerinnen und Schüler des Ringeisen-Gymnasiums aus Briefen vor, die Ursberger Bewohner aus den Anstalten, in die sie verlegt worden waren, geschickt hatten. Deutlich geht aus diesen Briefen hervor, wie sehr sich diese Menschen nach Ursberg zurücksehnten. Deutlich wird auch, wie die Schwestern der St. Josefskongregation durch persönlichen Kontakt und Besuche sowie permanente Nachfragen nach ihren Schützlingen darum gekämpft hatten, dass diesen Menschen nichts geschieht – und wie machtlos sie oft waren.

Wie sehr die hilfsbedürftigen Menschen ihren Peinigern und Mördern ausgeliefert waren, zeigte auch die Aktion der Dominikus-Schule am Gedenkort im Klostergarten, bei der sie die Schicksale einiger der auf den Stelen des Mahnmals abgebildeten Menschen erzählten. Für jeden Menschen wurde ein Porträtfoto hochgehalten und auf einen mit einem weißen Tuch verhüllten Stuhl gestellt. Die Namen bekamen so ein Gesicht und die Angst und Unsicherheit, mit der sie zu kämpfen hatten, wurde so noch viel deutlicher spürbar.

Die Schülerinnen und Schüler beider Schulen sind überzeugt, dass es wichtig ist, die Erinnerung an diese Menschen hochzuhalten. Die Verantwortung heutiger Generationen liegt ihnen zufolge darin, immer wieder über die Verbrechen zu sprechen und zu informieren und eine Wiederholung niemals zuzulassen.

Gemeinsam mit der Dominikus-Schule erarbeiteten daher Schülerinnen und Schülerinnen des Ringeisen-Gymnasiums Plakate in einfacher Sprache, die über das Euthanasieprogramm und die Aktion T4, der Tarnname für den massenhaften Mord, in der Pausenhalle des Ringeisen-Gymnasiums informieren. Wer sich mit dem Lesen schwer tut, kann auch sogenannte Anybook-Reader nutzen, mit einem QR-Code-Scanner ausgestattete Stifte, die die über den Code auf einem Plakat von den Schülerinnen und Schülern eingesprochene Texte wiedergeben können.   

Besondere Betroffenheit löste die Ausstellung im Kreuzgang des Klosters aus. Auf Plakaten hatten die Schülerinnen und Schüler die Biographien von Tätern ausgestellt: Lagerkommandanten, aber auch Ärzte aus den Krankenstationen der Konzentrationslager und Tötungsanstalten. So etwa die Ärztin und Kinderbuchautorin Hedwig Eyrich, die in der Abteilung Erb- und Rassenpflege am städtischen Gesundheitsamt in Stuttgart Mitverantwortung trägt für die Ermordung von rund 5 000 Kindern. Die Jugendlichen spüren dabei, dass der Mord an Menschen mit Behinderung nicht nur deshalb umgesetzt werden konnte, weil Adolf Hitler das wollte, sondern weil sie in der ganz normalen Bevölkerung hunderttausende Helfer fanden.

Die Tatsache, dass Akademiker und Ärzte hier zu Tätern wurden, Menschen Schmerzen und Leid zufügten, Leben vernichteten, macht viele betroffen. Es sei „traurig und schockierend“, erklärt eine Schülerin, „dass das nicht einfach nur Leute waren, die zu dumm gewesen sind“, um zu begreifen, was sie da tun, sondern auch Menschen, die sich zur intellektuellen Elite des Landes zählten. Damit solche Verbrechen nie wieder ermöglicht werden können, formuliert die Schülerin ein leicht umsetzbares Rezept: „Wir müssen ganz allgemein aufpassen, wie wir miteinander umgehen.“ 

Bilder: Stefan Reinbold/Titelbild: Bayram Er (DRW)