Schauspieler der Münchner Kammerspiele erinnern in Ursberg an die Krankenmorde des Euthanasie-Programms

Überall im Land brannten Synagogen, wurden jüdische Geschäfte verwüstet und ausgeplündert, jüdische Mitbürger misshandelt und verhaftet: der 9. November 1938 war der sichtbare Auftakt für den Völkermord an den Juden im Dritten Reich. Im Schatten dieses monströsen Verbrechens wurde den sogenannten Krankenmorden, der systematischen Tötung psychisch Kranker sowie Menschen mit Behinderung, deren Leben damals als „unwert“ erachtet wurde, nur wenig Aufmerksamkeit zuteil. Erst seit den 1980er Jahren rücken auch die Mordaktionen im Rahmen des „T4-Programms“, denen in ganz Deutschland etwa 230 000 Menschen zum Opfer fielen, ins öffentliche Bewusstsein. Allein aus Ursberg wurden 379 Menschen in den Tötungsanstalten ermordet. 

Bereits kurz nach der Machtergreifung gingen die Nationalsozialisten daran, ihre perfide Vorstellung einer rassisch reinen Volksgemeinschaft umzusetzen, indem hunderttausende sogenannte „Ballastexistenzen“ durch Zwangssterilisierung unfruchtbar gemacht wurden. Mit Beginn des Krieges erhielten Ärzte freie Hand zur Auslöschung „unwerten Lebens“. Mit bürokratischem Eifer wurden die Menschen in den Heil- und Pflegeeinrichtungen anhand von Fragebögen klassifiziert und nach der Verlegung in spezielle Tötungsanstalten vergast. Insofern war der Mord an den wehrlosen Patienten – darunter auch viele Kinder – ein Testlauf für den Holocaust.

Als sich Widerstand vonseiten der Bevölkerung und Teilen der Kirche gegen das Morden erhob, wurde das T4-Programm offiziell eingestellt. In den Anstalten mordeten die Ärzte aber heimlich weiter, indem die Patienten systematisch ausgehungert wurden.

Der Münchner Arzt, Psychiater und Autor Professor Michael von Cranach, der viel zur Erforschung und Aufarbeitung der Psychiatrie in der Zeit des Nationalsozialismus geleistet hat, legt am Abend des 9. November zusammen mit den Schauspielern der Münchner Kammerspiele, Felicitas Friedrich und Frangiskos Kakoulakis, in einer Lesung im Ringeisensaal des Ursberger Gymnasiums ein bedrückendes Zeugnis dieses dunklen Kapitels deutscher Geschichte ab. Besonders bedrückend auch deshalb, weil es die christlich-humanistisch gebildete Elite der Ärzteschaft war, deren eigentliche Aufgabe der Schutz und Erhalt des Lebens ist, die anhand der oberflächlichen Sichtung von Krankenakten und Fragebögen in ihren Gutachten ohne jeden Skrupel mit ihrer Unterschrift über Leben und Tod der betroffenen Menschen entschieden.

In der von der St. Josefskongregation und dem Dominikus Ringeisen-Werk initiierten, etwa eineinhalbstündigen Lesung aus der Feder des Dramaturgen Martín Valdés-Stauber wird deutlich, mit welch gefühlloser Kälte und technokratischer Unbarmherzigkeit die Täter handelten. Etwa wenn ein Arzt seiner Frau schreibt, wie gut das Essen schmeckt, dass er in der SS-Kantine nach der Abarbeitung zahlreicher Todesurteile genießt. Nüchtern rechnen Kalkulationen aus der Heil- und Pflegeanstalt Hartheim vor, wie viele Millionen Reichsmark sich die Einrichtung und der Staat durch die „Desinfektion“ – also der Ermordung – von Patienten gespart habe.

„Die Gewalt steckt oft in kleinen Details, in der Nüchternheit“ ebensolcher Verwaltungsvorgänge, betont Felicitas Friedrich. Besonders nahe sei ihr der Brief einer Mutter gegangen, die einen flehentlichen Brief an die Heilanstalt richtet, ihr doch mitzuteilen, wo sich ihre Tochter nun befinde, nachdem sie in eine andere Einrichtung „verlegt“ worden sei. In einem Nachsatz, in dem die Frau darum bittet, ihr wenigstens die Leiche im Falle eines Ablebens zukommen zu lassen, wird deutlich, dass sie ahnt, welches Schicksal ihrem Kind zuteilgeworden ist.

Für ihn sei die Lesung besonders schmerzlich, erklärt Frangiskos Kakoulakis, der selbst vom Down-Syndrom betroffen ist. Es rühre sein Herz an, aus den Briefen herauszulesen, „dass die Leute nicht verstanden haben, dass sie sterben und verhungern werden“. Gleichzeitig sei das Leid, dass diesen Menschen widerfahren ist, und vor allem die Aufarbeitung und Erinnerung, ausschlaggebend dafür, dass Menschen wie er heute weiterleben und sich weiterentwickeln könnten. „Ich finde, dass wir alle gleichwertig sind“, fügt er hinzu.

Anhand historischer Akten und Täterdokumente, aber in erster Linie aus Briefen und Zeugnissen von Angehörigen und Opfern, die vor allem deswegen erhalten sind, weil die Ärzte sie nie abgeschickt haben, erhalten die Zuschauer einen verstörenden Einblick in diese Vorgänge.

Ein wichtiges Anliegen der Lesung sei es, so von Cranach, den Opfern eine Stimme zu geben und ihnen somit ihre Würde zurückzugeben. Die Erinnerung sei elementar, denn die Idee, den Wert eines Menschen anhand seiner volkswirtschaftlichen Leistungsfähigkeit und seiner erbbiologischen Qualität zu bemessen, entstammte nicht genuin der NS-Ideologie. Schon lange vor der Machtergreifung der Nazis ist ein solches Vorgehen in Medizinkreisen diskutiert und damit salonfähig gemacht worden. Von Cranach warnt auch, der Gedanke, „dass Menschen nicht alle gleich sind, ist nicht verschwunden“.

In diesem Sinne sei es besonders wichtig, an die Krankenmorde zu erinnern, mahnt auch der Geistliche Direktor des Dominikus Ringeisenwerks, Martin Riß, denn, so die Worte der von den Nazis zwangssterilisierten Künstlerin Dorothea Buck, „was nicht erinnert wird, kann immer wieder passieren, wenn sich die äußeren Lebensumstände entscheidend verschlechtern“.