Wahrhaftigkeit oder Selbstschutz?
Ödön von Horváth, aus dessen Feder das eigentlich epische Werk stammt, wurde 1901 im heutigen Kroatien (damals Österreich-Ungarn) geboren und zog mit seiner Familie immer wieder um. So lebte er nicht nur in Budapest und Wien, sondern auch mehrmals in München, wo er sich auch 1921 an der Universität für psychologische, literatur-, theater- und kunstwissenschaftliche Seminare einschrieb. Ab dem Jahr 1920 begann der junge Horváth mit seiner schriftstellerischen Tätigkeit und wurde schnell bekannt – so wurde eines seiner ersten Werke („Das Buch der Tänze“) bereits 1922 in München aufgeführt. Horváth widmete sich immer stärker der Schriftstellerei, sodass heute viele Werke von ihm überliefert und bekannt sind. Dazu zählen nicht nur seine Dramen, wie die „Geschichten aus dem Wiener Wald“, sondern auch seine Romane, zu denen eben auch „Jugend ohne Gott“ gehört.
Der vor allem sozialpolitische Schriftsteller setzte sich in seinen Werken auch kritisch mit dem NS-Regime auseinander, zu deren Opfern auch seine Familie zählte. Nachdem die elterliche Villa von der SA durchsucht worden war, verließ Ödön von Horváth Deutschland und besuchte 1938 Paris, wo er von einem Baum während eines Gewitters am 1. Juni erschlagen wurde.
Der eigentlich von Ödön von Horváth verfasste Roman „Jugend ohne Gott“ wurde von Christopher Hampton als Theaterstück umgeschrieben und als modernes Drama aufgebaut. Es besteht also aus vielen verschiedenen Szenen, die zwar chronologisch angeordnet, aber kurzgehalten sind und schnell aufeinander folgen – eine wahre Herausforderung im Übrigen für unser Umbauteam.
Eine Lehrerin für Geschichte und Geografie unterrichtet zur Zeit des Nationalsozialismus‘ die Mädchenklasse eines Gymnasiums und stößt dort immer wieder auf indoktrinierte, „stumme Fische“ (Caesar in Szene 4), die einfach in den Aufsätzen, im Unterricht und in ihrem Handeln das zeigen, was sie durch die Propagandamaschinerie jeden Tag vorgelebt beziehungsweise -gesagt bekommen. So „[sind] Neger“ laut Ottilie Neumann „keine Menschen“ und die Stärkeren dürfen über die Schwächeren herrschen. Die Lehrerin kann sich mit dieser Einstellung zu Beginn des Dramas nicht anfreunden, versucht für die Humanität zu stehen und wird natürlich denunziert, was zur Folge hat, dass sie sich vor dem Direktor der Schule, der eigentlich selbst Pazifist ist, sich aber der allgemeinen Lethargie unterwirft, und den Eltern Neumann in einem Gespräch für ihre Aussagen über Neger verantworten muss. Daraufhin beginnt der innere Konflikt der Hauptfigur zwischen den eigenen Werten und dem Wunsch eines jeden von uns, sicher und unbeschadet zu überleben.
Die Handlung springt danach und der Zuschauer wird in ein Ferienlager im Wald geführt, in dem die Mädchen zusammen mit der Lehrerin und einem Feldwebel einige Tage verbringen. Hier geht die thematische Auseinandersetzung mit der Entmenschlichung der jungen Generation weiter, es kommt aber auch ein zweiter Handlungsstrang hinzu: Ottilie Neumann wird tot aufgefunden und keiner weiß, wer der Mörder ist. Auch die Lehrerin fragt sich, ob sie schuld am Tod des Mädchens ist, da sie das Tagebuch Rosas, einer Mitschülerin, heimlich aufgebrochen und gelesen und dadurch Streit zwischen den Mädchen ausgelöst hat. Natürlich vermuten nun alle, dass Rosa die Mörderin Ottilies ist. Hier entsteht nun ein weiteres Dilemma für die Lehrerin: Wenn sie sich selber verrät, verliert sie vielleicht ihren Job und ihr Gesicht, wenn sie weiter schweigt, wird der wahre Mörder Ottilies wahrscheinlich nie überführt.
Das Drama behandelt nicht nur sehr gesellschaftskritisch den Umgang der Menschen miteinander, sondern es stellt auch jedem Zuschauer immer wieder die Frage, was nun die richtige Entscheidung ist – nicht nur für die Lehrerin zur Zeit des Nationalsozialismus‘, sondern auch für uns, in unserem Alltag, wenn wir in der Zwickmühle stecken und nicht wissen, was richtig und was falsch ist. Versuchen Sie sich doch auch einmal in die Rolle der Lehrerin hinein zu versetzen und selbst zu überlegen, welchen Weg Sie gehen würden: Wahrhaftigkeit oder Selbstschutz?!
Lucia Mehr mit den Kursen Theater und Film der Q11 und Q12