Nachrichten in blutroter Schrift
An ein ungewöhnliches Projekt wagte sich der Oberstufenkurs „Theater und Film“ des Ringeisen-Gymnasiums der St. Josefskongregation. Unter der Leitung von Lucia Mehr führten die Schülerinnen und Schüler das Stück „Jack“ auf – eine, so der Untertitel, „kriminalistische Phantasie“ der Theaterautorin Cornelia Wagner.
Die Handlung spielt im Herbst 1888 im Londoner Elendsviertel Whitechapel. Tagelöhner, Prostituierte, Kleinhändler, dubiose Vermieter und Besucher einfacher Pubs bilden hier das, was von anderen leichtfertig und falsch als Rand der Gesellschaft bezeichnet wird. Doch auch diese Menschen stehen mitten im Leben, nur haben sie mit massiven Problemen zu kämpfen. Eines davon lässt sich in einer einfachen Frage formulieren: „Wie überlebe ich den nächsten Tag?“ Schon das ist doppeldeutig und rätselhaft wie so manches in diesem Stück: Denn einmal geht es um Grundbedürfnisse der Existenz – genug zu essen, ein Dach über dem Kopf –, zum anderen herrschen Angst und Schrecken in Whitechapel: Ein brutaler Killer treibt sein Unwesen und ermordet scheinbar wahllos eine Prostituierte nach der anderen. Seine Waffe: ein Messer. Schnell hat er einen Namen weg: Jack the Ripper. Die Polizei scheint machtlos gegen den geheimnisvollen Unbekannten, der sie narrt, und macht sich durch ihre Unfähigkeit immer mehr zum Gespött der Presse. Regelmäßig tritt – meist im Dunkeln – ein geheimnisvoller Mann mit einem Koffer auf, dessen Inhalt er ungern verrät: „Das möchten Sie nicht wirklich wissen …“ Die Verdächtigungen schießen ins Kraut: „Wer könnte der Mörder sein?“ Zwielichtige Gestalten gibt es schließlich genug. Scotland Yard schickt den Ermittler Frederick Abberline, um den Täter endlich zu fassen. Ständig wird er vom neugierigen Reporter Robert Simmons belagert. Mit roter Tinte schreibt der geheimnisvolle Fremde Briefe an die Polizei. Gleichzeitig entschließt sich die ehemalige Prostituierte Mary Jane Kelly trotz der Gefahr, in die sie sich damit begibt, wieder auf die Straße zu gehen. Ihr Freund Joseph Barnett, ein arbeitsloser Marktarbeiter, versucht sie davon abzubringen. Kurze Zeit später ist auch Mary Jane tot.
In diese Szenerie platzierte Lucia Mehr mit ihren Schülerinnen und Schülern gekonnt eine Milieustudie, die die Facetten dieser Gesellschaft wunderbar ausleuchtete. Die stümperhaften Polizisten, die nicht wirklich an der Aufklärung interessiert sind, wurden treffend charakterisiert. Der Fremde mit dem Koffer stand geheimnisvoll in blutrotes Licht getaucht, während der sensationsgierige Reporter – vielleicht in Anlehnung an den Begriff „Regenbogenpresse“ – in bunten Farben daherkam. Und da waren Mary Jane und ihre Kolleginnen von der Straße, die ums Überleben kämpften und doch zusammenhielten und miteinander feierten. Da war Marys Freund Joseph, immer in Geldnot und verzweifelt, dass er Mary nichts bieten kann. Schließlich die Gäste im Pub, die sich in Spekulationen um den Täter überboten. Und immer wieder ging die Angst um, was gerade auch im passend ausgewählten Sound zum Ausdruck kam. Doch wovor musste man sich mehr gruseln: vor dem Mörder oder den Leuten, die die Fahndung nach ihm verschleppten? Zum Glück gab es da auch große emotionale Momente, die die jungen Akteure schön herausarbeiteten. Wie sagte doch Joseph zu Mary Jane: „Ich hatte dich. Das war das Beste.“ Ein bemerkenswerter Theaterabend!
Christian Pagel
Mittelschwäbische Nachrichten, Montag, 5.12.2022