Geschichte:
Das Ringeisen-Gymnasium gedenkt der Opfer des Nationalsozialismus.
Das Erinnern finden Lehrerinnen und Lehrer ebenso wie Schülerinnen und Schüler besonders wichtig.
Mittelschwäbische Nachrichten, Samstag, 29. Januar 2022
Von Manuela Rapp
Ursberg „Jeder Mensch ist kostbar, jeder verdient Respekt und hat seinen Platz in der Gesellschaft.“ Diejenigen, die das sagen, sind Neuntklässler. Am „Tag des Gedenkens an die Opfer des Nationalsozialismus“ hat der Satz der Schüler des Ursberger Ringeisen-Gymnasiums der St. Josefskongregation eine besondere Bedeutung: 379 Menschen mit Behinderung aus den Einrichtungen in Ursberg, Kloster Holzen und Maria Bildhausen kamen gewaltsam in den Tötungsanstalten der Nationalsozialisten zu Tode. An vier Stationen und umrahmt von einem gemeinsamen Erinnern am Euthanasie-Mahnmal im Klosterhof begingen die 86 Schüler der neunten Jahrgangsstufe gemeinsam mit ihren Lehrkräften den seit 1996 bundesweit gesetzlich verankerten Gedenktag. Jede der vier Klassen hatte sich mit eigenen Beiträgen eingebracht.
„Wir müssen uns erinnern“, betont Barbara Gadau, Fachschaftsleiterin für Geschichte und Organisatorin der Veranstaltung. „Man muss den Schülern erklären, warum es dieses Mahnmal gibt“, nimmt die Lehrerin Bezug auf das Euthanasie-Mahnmal im Klosterhof. Denn: „Man braucht die Fakten, um das Ganze zu verstehen.“ An Einzelschicksalen ließe sich das Geschehene deutlich machen. Die meisten Schüler, so ihre Erfahrung, seien sehr interessiert an dieser Thematik. Barbara Gadaus Wunsch: „Wenn man über die Geschichte Bescheid weiß, ist das Gerüst gegeben, um über aktuelle Entwicklungen zu reflektieren und sich zu positionieren.“
Der Gedenktag, der heuer erstmals in diesem größeren Rahmen begangen wurde, soll eine feste Ein-richtung an der Schule werden, blickt die Fachschaftsleiterin in die Zukunft. Bislang habe es immer wieder mal einzelne Aktionen wie beispielsweise eine Lesung mit dem Autor Robert Domes gegeben. „Es ist angedacht, ihn von jetzt an jedes Jahr zu veranstalten.“
Doch warum wurden gerade die neunten Klassen eingebunden? „Im Geschichts- und Religionsunterricht wird das Thema Nationalsozialismus im Lehrplan dieser Jahrgangsstufe vertieft“, erläutert Pater Christian Hamberger, der katholische Religion am Ringeisen-Gymnasium unterrichtet. „Beides verknüpft sich miteinander.“ Dies gehöre zum ganzheitlichen Ansatz. Mit seiner Religionsklasse hat er den Rahmen für den Gedenktag erarbeitet. Über die Vorbereitungen dazu, die seit Weihnachten liefen, resümiert der Schulseelsorger: „Möglichst viel die Schüler machen lassen.“ Er habe sich zurückgehalten. „Es sollte von ihnen kommen, sollte ihr Werk sein.“
Sehr weit weg sei das Thema aus dem Alltag der Schüler. Nur über Einzelschicksale kann seiner Meinung nach eine Beziehung zum heutigen Leben hergestellt werden. Dadurch entstehe auch eine gewisse Empathie. „Die Schüler haben alle Namen der Opfer selber abgeschrieben und deren Alter errechnet“, gibt er ein Beispiel vom Engagement seiner Religionsklasse.
Beim gemeinsamen Gedenken am Mahnmal wurden alle Vornamen vorgelesen – zusammengefasst nach Altersgruppen. Eine Flamme, die entzündet wurde, das Glockenläuten, kurze Ansprachen, Gäste: Rituale wie diese hält der Prämonstratenserpater in diesem Zusammenhang für wichtig. „Dadurch wird die größte innere Verbindung hergestellt.“ Auch Orte nehmen für ihn einen hohen Stellenwert ein: „Sie haben mit dem Geschehen zu tun gehabt.“ Man könne sie nicht weglassen. Sie ließen sich durch Technik nicht ersetzen. „Unsere Schule ist der Wohnort der Behinderten gewesen“, erklärt Pater Christian.
Um darauf aufmerksam zu machen, ist eine der vier Stationen, die die Schüler mit ihren Lehrern besuchen, St. Josef vor dem Haupteingang des Gymnasiums. Das 2004 errichtete Mahnmal im Klosterhof und das Haus Emmaus, das ehemalige Ärztehaus, bilden weitere Orte des Erinnerns. „Dr. Ilsabe Gestering hat eine ganze Reihe von Betreuten gerettet“, erklärt Christian Pagel, ständiger Stellvertreter des Schulleiters, die Zusammenhänge. Die junge Ärztin sei tragischerweise bei einem Bombenangriff auf einen Zug ums Leben gekommen.
Neben Orten sind es nüchterne Fakten, die in der vierten Station helfen sollen, das Geschehene einzuordnen. Im Kreuzgang geben Stellwände Informationen über den Nationalsozialismus. Im direkten emotionalen Kontrast dazu steht eine Kunstausstellung, die direkt daneben aufgebaut wurde. Zwölftklässler haben sich mit dem Unfassbaren in Zeichnungen, Bildern oder bildender Kunst beschäftigt. Es wurde aber auch mit ganz moderner Technik gearbeitet: Podcasts etwa, also Audio- und Videobeiträge, die über das Internet zu beziehen sind. „Um didaktisch und pädagogisch einen möglichst guten Zugang zu bekommen, müssen wir möglichst viele Kanäle benutzen“, befindet Christian Pagel.
„Man kann sich das in der heutigen Zeit gar nicht mehr vorstellen“, sagt Jakob Dauner. Unbegreiflich sei es für ihn, „warum man so etwas machen kann“, so der 15-Jährige. Dann macht der Schüler der 9c einen Sprung in die Vergangenheit: „Hier stand ein grauer Bus.“ Mit ihnen wurden Euthanasie-Opfer der „Aktion T4“ deportiert. Warum man einfach so Menschen umbringe? Es falle ihm schwer, sich mit den Tätern zu beschäftigen. Das Gedenken halte er für ganz wichtig. Es gebe fast keine Zeitzeugen mehr. Er sieht darin eine Verantwortung seiner Generation, die Erinnerung aufrechtzuerhalten und an die weiterzugeben, die nach ihnen kommen. Am Anfang habe er nicht so viel darüber gewusst, sagt Jakob Dauner. Intensiver mit der Geschichte der Euthanasie habe er sich auseinandergesetzt, als sie den Gedenktag vorbereitet hätten. „In Geschichte haben wir parallel dazu gelernt.“
Für Johanna Walter, eine Klassenkameradin von Jakob, war die Lektüre des Buches „Nebel im August“ von Robert Domes, das sie in der 8. Klasse gelesen hätten, ein emotionaler Moment. „Darin wurden die Gefühle der Person beschrieben“, erzählt sie. „Wir in unserem Alter werden tolerant erzogen, man kann sich das nicht mehr vorstellen.“ Jessica Schneider, die ebenfalls die 9c besucht, meint: „Das ist eine krasse Vorstellung. Es ist noch nicht mal 100 Jahre her.“
Für Christian Pagel „hat die Schule eine besondere Verpflichtung“. Man unterrichte in Gebäuden, in denen alles stattgefunden hat. Wenn man als Schule den Leitsatz des Dominikus-Ringeisen-Werks, „Jeder Mensch ist kostbar“, ernst meine, „müssen wir es zeigen“. Aus der Geschichte etwas mit-nehmen und Lehren daraus ziehen, lautet auch der Appell von Rektor Andreas Merz bei der Gedenkfeier. Was Pater Christian Hamberger beschäftigt: „Ethische Fragen sind oft die gleichen.“ Jeder Mensch sei kostbar: „Wenn man das zu Ende denkt, verändert sich auch unser Leben.“
Veröffentlichung mit freundlicher Genehmigung der Autorin. Herzlichen Dank!