
„Was nützt einem eigentlich eine Freundschaft, die nur Ärger und Feindseligkeit bringt? Aber kommt es darauf an? Ist es nicht viel wichtiger, dass jemand für einen da ist, wenn man ihn braucht?“
Mit diese Frage muss sich die Ich-Erzählerin der Lektüre „Der Tag, als ich lernte die Spinnen zu zähmen“ von Jutta Richter auseinandersetzen.
Die Geschichte handelt von einem Außenseiter namens Rainer, der von den anderen Kindern gemieden wird – nur die Erzählerin lässt sich auf ihn ein. Doch die Freundschaft ist brüchig, und ein Ereignis bringt alles ins Wanken. Am Ende bleibt vieles offen – zu offen, fanden viele der Schülerinnen und Schüler. Deshalb wurde die Klasse selbst kreativ: In einem Schreibprojekt entwickelten die Kinder eigene Enden – mal versöhnlich, mal traurig, mal schockierend.
Vier besonders gelungene Versionen stellen wir hier vor. Sie zeigen nicht nur sprachliches Geschick, sondern auch ein bemerkenswertes Gespür für zwischenmenschliche Fragen wie Freundschaft, Mut und Schuld.
Die alternativen Versionen knüpfen direkt an die Schlussszene der Originalgeschichte an – an den Moment, in dem sich die Erzählerin bewusst gegen eine Freundschaft mit Rainer entscheidet und ihn einfach davonlaufen lässt.
Version 1 von Janina:
Alle blieben reglos, doch ich hielt es nicht mehr aus. Ich schrie nach Rainer und rannte in das Gebüsch, in dem er verschwunden war. Meine Hände waren ganz rau und verkratzt. Ich hörte ein Schluchzen. Es war Rainer. Als ich ihn gefunden hatte, sagte ich ihm, dass ich es nicht so gemeint hatte und dass es mir leid tue. Er schrie: „Geh weg!“ Ich schlüpfte leise durchs Gebüsch und flüsterte: „Übrigens habe ich es geschafft, die Spinne zu zähmen.“ Dann sprintete ich los und war so traurig wie noch nie. Ich saß im Gebüsch und weinte bis zum Umfallen. „Mädchen, zeig mir das mit der Spinne“, sagte eine vertraute Stimme hinter mir. Es war Rainer, mit einer Spinne auf der Hand. Ohne zu zögern, nahm ich die Spinne. Er sagte: „Respekt Mädchen“, und für eine klitzekleinen Moment war alles wie früher, wo ich noch meinen Knippstein hatte und wo Michael Franke noch nicht von Rainer umgeschubst worden war. Aber dann kamen die anderen Kinder und sagten: „Ja, von wegen das mit Rainer ist vorbei.“ „Rainer ist ein guter Freund, im Gegensatz zu euch!“, brüllte ich und glaubte selber nicht, dass ich das tat. Dann nahm ich Rainers Hand und rannte weg.
Rainer bleibt auf jeden Fall mein bester Freund, egal ob ihn andere mögen oder nicht. Ich mag ihn, egal was kommt.
Version 2 von Charlotte:
Rainer tauchte die nächsten Tage nicht in der Schule auf. Tag für Tag überlegte ich, ob es schlau gewesen war, wie ich mich verhalten hatte. Als dann letzten Montag unsere Lehrerin mit einer ernsten Miene ins Klassenzimmer marschiert kam und mit Tränen in den Augen verkündete, dass Rainer tot unter einer eingestürzten Wand im Gruselhaus gefunden wurde, fühlte es sich an, als hätte mir jemand mit einem Dolch ins Herz gestochen.
Ich verkroch mich in den nächsten Tagen in meinem Zimmer, und am Tag von Rainers Beerdigung wurde mir schon schlecht beim Gedanken an Rainers leblosen Körper. Martina, die mit mir mitfuhr zur Beerdigung, hatte ein weißes Gesicht. „Denkst du, Rainer ist jetzt im Himmel?“, fragte sie mich. Ich antwortete: „Bestimmt!“ Michael Frank und Hans Pfeifer waren ebenso weiß wie Martina, nie im Leben hätten wir damit gerechnet, dass Rainer jemals nicht mehr da sein hätte können
Die Beerdigung tat weh wie Kaugummi und als schließlich alle weg waren, kniete ich mich vor Rainers Grabstein und flüsterte: „Es tut mir leid, Rainer!“
Version 3 von Marlene:
Ich lief Rainer nach, packte seinen Arm, doch er schlug meine Hand weg. Er drehte sich um und eine Zeit lang starrte er mich nur an, bis ich dachte, er wolle etwas sagen. Doch er tat es nicht.
Plötzlich hörte ich ein Geräusch, schaute mich um, aber als ich mich wieder zu Rainer wandte, war er verschwunden.
Und in diesem Moment wurde mir klar: „Ich hatte alles falsch gemacht.“
Version 4 von Louis:
Rainer rannte, und rannte, bis er nur noch ein kleiner Punkt war.
Am liebsten würde ich ihm hinterherrennen, aber dann würden mich die anderen nicht mehr mögen. Also ratschten wir und warfen ab und zu Steine auf die LKWs, die zu Onkel Arnolds Bauhof fuhren. Als es Abend wurde, liefen wir auf dem Trampelpfad zurück nach Hause. Als wir am Gruselhaus vorbeigingen, war alles ganz normal. Doch was war das? Ich glaubte, Rainers Stimme zu hören, aber wahrscheinlich war das nur Einbildung. Doch die anderen schienen auch etwas gehört zu haben. Auf einmal sagte Martina Thiemann zu uns: „Das war ein Hilferuf! Selbst wenn er ein Furchendackel ist, müssen wir ihn retten!“
Michael Franke antwortete halb widerwillig: „Stimmt! Aber er ist hier drinnen!“ Sofort kam alles wie aus mir herausgeschossen, und ich rief: „Das ist jetzt egal! Wenn Rainer in Gefahr ist, müssen wir ihn retten!“ Wir kletterten durch das offene Fenster und sahen es: Rainer war durch den morschen Boden gebrochen und lag verdeckt unter einem Berg aus Schutt begraben. Wir kletterten in den Keller und befreiten Rainer. Martina Thiemann rief einen Krankenwagen.
Nach dieser Aktion wurden wir alle Freunde. Denn es gibt ein paar Dinge, die man nicht schaffen kann, ohne Freundschaft zu schließen. Rainer aus einem Berg aus Schutt zu retten gehört gewiss dazu.
Text/Bilder: Christina Kollmann